Empathie - ein Plädoyer für eine neu zu entdeckende Fähigkeit

Empathie ist eine Schlüsselkompetenz für fruchtbares Streiten. Barack Obama schreibt in seinem Buch Ein amerikanischer Traum. Die Geschichte meiner Familie“:

 

„Wie alle meine Werte lernte ich die Empathie von meiner Mutter. Sie verachtete jede Art von Grausamkeit, Gedankenlosigkeit oder Machtmissbrauch, ob es sich in Form eines Rassenvorurteils oder Mobbing auf dem Schulhof oder von Unterbezahlung von Arbeitern ausdrückte. Wann immer sie bei mir so ein Verhalten bemerkte, sah sie mir direkt in die Augen und fragte: „Wie würdest Du Dich dabei fühlen?“ 

 

Empathie ist nicht mit Sympathie zu verwechseln. Sympathie birgt die Tendenz, sich zu verlieren. Jemand der Empathie übt, versucht „in den Schuhen des anderen zu stehen und durch seine Augen zu schauen“, sagt Obama, auch wenn er ihn nicht sympathisch findet. Ein empathischer Mensch steht zu den eigenen Werten und artikuliert sie konfliktfreudig und deutlich. Sein radikales Bei-sich-sein entspricht seinem radikalen Respekt vor den Anliegen und Werten des Gegenübers. Es ist sein Interesse für den andern, welches ihn zuhören lässt, bevor er seine eigene Haltung darlegt. Dieses zuhörende Interesse ermöglicht einen authentischen und kreativen Austausch, der  das Verbindende vor das Trennende stellt, es wertschätzt und so, jenseits von Kompromissen, zu kreativen Lösungen kommt, die für beide Seiten neu sind. Neue Lösungen sind das, was wir brauchen!

 

Was in der Politik als Kommunikationskultur gepflegt wird, entsteht im Kleinen von Mensch zu Mensch. Dort befindet sich der Vegetationskegel des kulturellen Prozesses. Kultur ist das, was eine Gruppe von Menschen jeden Tag tut. Wie gehen wir mit unseren alltäglichen Konflikten um? Wir umgehen sie! Was ist  der  häufigste Grund für Streit und Unzufriedenheit? Wir bekommen nicht, was wir wollen! Wir bekommen es nicht, weil wir es nicht klar sagen, ja, weil wir oft nicht genau wissen, was uns am Herzen liegt. Wir achten nicht auf unsere wahren Gefühle, die uns sagen, was uns wichtig ist.

 

Unsere innere Ausrichtung macht, dass wir unsere Gefühle nicht ernst nehmen: Unsere Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf unsere Gefühle und Bedürfnisse, sie richtet sich nach aussen zum andern und vor allem darauf, was er richtig oder falsch macht. Blitzschnell ist unser Urteil zur Stelle: Der ist unfähig, geldgierig, selbstzentriert und vieles mehr. Ein Urteil und besonders ein moralisches, verleiht uns den Eindruck von Macht über den andern. Wir sitzen wie Gott auf dem  Thron und teilen die Menschen ein in gute und böse.

 

Wir sind  gewohnt, uns und andere zu  beurteilen und zu interpretieren, weil wir so erzogen sind. Alle tun es, jeden Tag. Kultur eben! Wir leben immer noch in hierarchischen  Strukturen. Die "höher" Stehenden sind der Überzeugung, näher bei der „Wahrheit“ zu sein und daher auch zu wissen, was  r i c h t i g  und  f a l s c h  ist. Dies hat die gesamte Sprachkultur und die Beziehungskultur aller sozialen Schichten geprägt.

 

Die Alternative, andere zu beurteilen besteht darin, Empathie zu üben. Empathie achtet stets auf Gefühle und Bedürfnisse, bei mir und beim andern. Sie beginnt mit Selbstempathie,  das heisst, ich richte die Aufmerksamkeit auf  meine Gefühle und Bedürfnisse und drücke sie klar und bestimmt aus. „ Du bist eine Egoist“, könnte dann etwa heissen: „Ich möchte, dass meine Bedürfnisse und Werte genau so ernst genommen werden wie Deine!“ Oder: „Der Chef nützt mich aus!“ hiesse: „Ich brauche Autonomie und Wertschätzung und ich werde es ihm sagen!“ Auf gleiche Weise kann ich dem pubertierenden Jungen, der zu mir sagt: „Meine Eltern sind für mich tot!“ sagen: „Ich höre, dass du so verletzt und wund bist, dass du nur noch Distanz und Ruhe brauchst!“

 

Hanspeter Baud